Aufklärung und Anthropozän. Neue Verhältnisbestimmungen von Mensch und Natur im Zeichen der anthropologischen Wende
Die interdisziplinäre Konferenz setzt die Reckahner Tagungen zur Erforschung der Aufklärung fort. Sie thematisiert unter dem Titel „Aufklärung und Anthropozän“ sowohl konkrete Projekte der Volksaufklärung als auch übergeordnete Fragen zur aufgeklärten Verhältnisbestimmung von Mensch und Natur.
Aufklärung und Anthropozän. Neue Verhältnisbestimmungen von Mensch und Natur im Zeichen der anthropologischen Wende
Mit dem Begriff des Anthropozäns ist die Frage, ab wann anthropogene Prozesse den Planeten Erde so grundlegend veränderten, dass von einem eigenen Erdzeitalter gesprochen werden muss, untrennbar verbunden. Klar benannt und präzise datiert wird die „Great Acceleration“, mit der ein massives Ansteigen u.a. der Weltbevölkerung, des CO2-Ausstoßes und der Durchschnittstemperaturen um die Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben wird. Weniger exakt wird hingegen angegeben, wann diese Entwicklungen ihren Anfang nahmen. Als Ursprung wird „die“ Industrialisierung vielfach nur als Schlagwort genannt und in ihrer Ungleichzeitigkeit kaum problematisiert. Vermeintliche Eindeutigkeit suggerieren hingegen die einschlägigen Diagramme und Zahlenreihen, die vielfach das 18. Jahrhundert als Ausgangspunkt wählen, ungeachtet der Tatsache, dass für diese ‚vorstatistische‘ Zeit nur wenig valides Datenmaterial vorliegt.
Implizit oder explizit wird also das 18. Jahrhundert zur Vorgeschichte des Anthropozäns erklärt. Doch steckt dahinter mehr als die traditionelle Setzung des 18. Jahrhunderts als Beginn der Moderne? Inwiefern ist es gerechtfertigt, diese Ära als einen Take-off des Anthropozäns zu interpretieren? Betrachtet man allein die demographischen, industriellen oder agrarischen Entwicklungen, so sind selbst in den größten Teilen Europas nur moderate Veränderungen zu beobachten. Unter dem aufklärerischen Schlagwort der Verbesserung war gleichwohl ein tiefgreifender Wandel der Lebensverhältnisse gewollt. Darauf zielten zahlreiche gewerbliche, agrar- und forstwirtschaftliche, medizinische, landes- und wasserbauliche Projekte und Reformvorschläge ab, die der Forschung als Initiativen der ökonomisch-gemeinnützigen Aufklärung oder Volksaufklärung bekannt sind.
Nicht nur aus heutiger Sicht erscheinen diese ,aufgeklärten‘ Maßnahmen – etwa die systematische Dezimierung von Spatzen, die Ausrottung von Raubtieren, die Entwässerung der Auen oder der intensivierte Abbau von Torf – als schädlich für Biodiversität und Klima. Obwohl unter den Bedingungen knapper Ressourcen und prekärer Versorgung zumeist als gemeinnützig und fortschrittlich propagiert und legitimiert, wurden entsprechende Maßnahmen auch im 18. Jahrhundert von kritischen Stimmen begleitet: von den betroffenen Menschen, die ihre traditionellen Lebensweisen und Wirtschaftsformen nicht kurzerhand ‚verbessert‘ wissen wollten, ebenso wie von nachdenklichen Gelehrten, die wie Jean-Jacques Rousseau oder Benjamin Franklin den Fortschritt der Zeit philosophierend in Frage stellten, oder aber bereits aus eigener Anschauung erschüttert auf die Zerstörung von Landschaften und Lebensräumen blickten.
Wie dies vor dem Hintergrund der Anthropozän-Debatte in die größere Geschichte der Mensch-Natur-Beziehungen einzuordnen ist, bleibt zu klären. Sicherlich zu differenzieren ist Philippe Descolas Position, der zufolge sich die Kultur-Natur-Dichotomie im 17. Jahrhundert (oder, wie er schreibt, einige Jahrzehnte nach Montaignes Tod) durchsetzte. Stattdessen ist eher von einem anhaltenden Ringen um eine Verhältnisbestimmung von Kultur und Natur auszugehen, das im 17. Jahrhundert und 18. Jahrhundert ebenso wenig entschieden wurde wie davor und danach. Jüngere Studien zur protestantischen Natur- bzw. Physikotheologie zeigen denn auch die langanhaltende Verbindlichkeit schöpfungstheologischer Vorstellungen (auch und gerade bei Protagonisten wie Linné), und diese Vorstellungen verschwanden im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht einfach, sondern wirkten adaptiert und überformt bis weit ins 19. Jahrhundert fort. Vor diesem Hintergrund ist auch noch einmal ein neuer Blick auf die Traditionalität respektive Modernität der von Heinrich Detering ‚entdeckten‘ Ökologie bei Brockes, Haller, Goethe und Humboldt zu werfen. Ebenso gilt es, die als Signum der Aufklärung verstandene ‚anthropologische Wende‘ einer Neubewertung zu unterziehen.
Unter dem Titel „Aufklärung und Anthropozän“ setzt die interdisziplinäre Konferenz die Reckahner Tagungen zur Erforschung der Aufklärung fort und öffnet sie für ein breites Spektrum an möglichen Fragestellungen. Thematisiert werden sowohl die konkreten Projekte der sogenannten Volksaufklärung als auch übergeordnete Fragen zur aufgeklärten Verhältnisbestimmung von Mensch und Natur.
The interdisciplinary conference continues the Reckahn conferences on research into the Enlightenment. Under the title "Enlightenment and Anthropocene", it addresses both concrete projects of public education and overarching questions about the enlightened determination of the relationship between man and nature.
(English)
Enlightenment and Anthropocene. New definitions of the relationship between man and nature in the context of the anthropological turning point
The concept of the Anthropocene is inextricably linked to the question of when anthropogenic processes changed planet Earth so fundamentally that one has to speak of a separate geological era. The "Great Acceleration" is clearly named and precisely dated, describing a massive increase in global population, CO2 emissions and average temperatures around the middle of the 20th century. However, it is not specified exactly when these developments began. As the origin, "the" industrialization is often only mentioned as a catchphrase and hardly problematized in its non-simultaneity. On the other hand, the relevant diagrams and series of numbers, which often choose the 18th century as a starting point, suggest supposed clarity, regardless of the fact
The 18th century is thus implicitly or explicitly declared to be the prehistory of the Anthropocene. But is there more behind it than the traditional positing of the 18th century as the beginning of modernity? To what extent is it justified to interpret this era as a take-off of the Anthropocene? If one considers demographic, industrial or agricultural developments alone, only moderate changes can be observed even in most parts of Europe. Under the enlightened catchphrase of improvement, a far-reaching change in living conditions was nevertheless desired. Numerous commercial, agricultural, forestry, medical, land and water engineering projects and reform proposals aimed at this, which are known to research as initiatives of economic, non-profit enlightenment or public enlightenment.
These 'enlightened' measures - such as the systematic decimation of sparrows, the extermination of predators, the drainage of floodplains or the intensified extraction of peat - appear to be harmful to biodiversity and the climate, and not just from today's perspective. Although under the conditions of scarce resources and precarious supply mostly propagated and legitimized as non-profit and progressive, corresponding measures were also accompanied by critical voices in the 18th century: by the people affected, who did not want their traditional ways of life and economic systems to be 'improved' without further ado, as well as by thoughtful scholars who, like Jean-Jacques Rousseau or Benjamin Franklin, philosophically questioned the progress of the time,
How this is to be integrated into the larger history of human-nature relations against the background of the Anthropocene debate remains to be clarified. Philippe Descola's position, according to which the culture-nature dichotomy prevailed in the 17th century (or, as he writes, a few decades after Montaigne's death), must certainly be differentiated. Instead, it is more likely that there will be an ongoing struggle to determine the relationship between culture and nature, which was just as little decided in the 17th and 18th centuries as before and after. More recent studies on Protestant natural or physical theology also show the long-lasting binding nature of creation-theological ideas (including and especially in the case of protagonists such as Linné), and these ideas did not simply disappear at the end of the 18th century, but continued to have an effect, adapted and modified, well into the 19th century. Against this background, a new look at the traditionality or modernity of the ecology 'discovered' by Heinrich Detering in Brockes, Haller, Goethe and Humboldt should be cast again. It is also important to reassess the 'anthropological turning point' understood as a sign of the Enlightenment.
Under the title "Enlightenment and Anthropocene", the interdisciplinary conference continues the Reckahn conference on research into the Enlightenment and opens it up to a wide range of possible questions. Both the concrete projects of the so-called public enlightenment and overarching questions about the enlightened determination of the relationship between man and nature are discussed.
Programm
Mittwoch, 28. September 2022
12.30–13.00 – Begrüßung und Einführung
13.00–13.45 – Prof. Dr. Julia A. Schmidt-Funke (Universität Leipzig): Aufklärung und Anthropozän – ein Problemaufriss
Pause
Sektion I: Aufklärerische Reflexionen über den menschlichen Eingriff in die Natur und sein Handeln als „Prometheus der neuern Zeiten“ (I. Kant).
14.15–15.00 – Prof. Dr. Jürgen Overhoff (Universität Münster): Jean-Jacques Rousseaus Kritik am Wirken des Menschen, der „das Klima verwirrt“. Über die Anfänge des Anthropozäns im 18. Jahrhundert
15.00–15.45 – Dr. Nastasja Dresler (LMU München): Der entfesselte Prometheus – Zur Gründungsfigur des Anthropozäns in Kunst und Literatur um 1800
Kaffee
Sektion II: Neuentdeckung und vertieftes Verständnis der Natur
16.30–17.15 – Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile (Universität Potsdam): Aufgeklärter Naturalismus. Spielarten des Naturverständnisses im 18. Jahrhundert
17.15–18.00 – Prof. Dr. Sebastian Engelmann (PH Karlsruhe): „...Zöglinge sollen keine Tiere sammeln“ – Bernhard Heinrich Blasches Naturbildung
Abendessen
19.00 – Keynote lecture: Prof. Dr. Jason Kelly (University of Indiana-Purdue University): The Anthropocenic Consciousness and the Long Eighteenth Century
Donnerstag, 29. September 2022
Sektion III: Physikotheologie – Die Schöpfung als „Weltgebäude“
9.00–9.45 – Prof. Dr. Hanno Schmitt (Universität Potsdam): Johann August Ephraim Goeze als Physikotheologe und Naturforscher
9.45–10.30 – Hendrik Holzmüller (Universität Münster): Physikotheologie in den Niederlanden – Jan Swammerdams „Bibel der Natur“ (1752)
Pause
Sektion IV: Volksaufklärung und Anthropozän
11.00–11.45 – Prof. Dr. Holger Böning (Universität Bremen): Die Entdeckung der Natur in der Volksaufklärung
11.45–12.30 – Prof. Dr. Stefan Brakensiek (Universität Duisburg-Essen):
Der Agrarreformer Peter Friedrich Hoffbauer (1750–1823) im preußischen Westfalen
Mittagessen
Sektion V: Agrarreformerische und landesbauliche Maßnahmen – Regionale Fallbeispiele
13.30–14.15 – PD Dr. Rainer Beck (Unterfinning/Konstanz): Anthropozän vor dem Anthropozän? Die Abschaffung der Wildnis – ein bayerisches Beispiel
14.15–15.30 – Prof. Dr. Joachim Scholz (RUB Bochum):
Segen oder Fluch? Der menschliche Eingriff ins Havelländische Luch seit dem 18. Jahrhundert
16.00 – Ende der Tagung
Kontakt
Dr. Silke Siebrecht-Grabig (tagung@reckahn.info)
Anmeldemodalitäten:
Da eine Tagungsgebühr nicht erhoben wird, ist eine förmliche Anmeldung nicht erforderlich. Tagungsteilnehmer:innen können sich jedoch auf einer Liste vermerken lassen, um sich dann bei der Ankunft am Tagungsort registrieren zu lassen. Wenden Sie sich dafür bitte unter Angabe Ihrer institutionellen Anbindung an Dr. Silke Siebrecht-Grabig (tagung@reckahn.info). Das Kontingent an Zimmern am Tagungsort ist begrenzt. Falls eine Übernachtung gewünscht ist, müssten Tagungsteilnehmer:innen nach Absprache mit der Tagungsorganisation also notfalls auch in Hotels oder Pensionen in Kloster Lehnin oder Potsdam ausweichen.
Zitation
Aufklärung und Anthropozän. Neue Verhältnisbestimmungen von Mensch und Natur im Zeichen der anthropologischen Wende. In: H-Soz-Kult, 07.08.2022, <www.hsozkult.de/event/id/event-128939>.